Text von Till Simon / Fotografie von Fabian Schneidmadel

Wie ein angeschossenes Wild stürzte Lanzelot vom See, edelster aller Gralsritter, über die verschneiten Felder um Camelot auf das dunkle Wäldchen vor ihm zu, das noch in morgendlichen Nebel verhüllt vor ihm lag. Er hatte sich das linke Bein auf der Flucht aus Guineverres Kemenate bei einem waghalsigen Sprung aus der Höhe von 3 Männern gebrochen und jede Bewegung schmerzte den edlen Ritter wie ein weißglühendes Brenneisen, das man ihm ans Bein drückte.
Doch konnte er sich nicht schonen und durfte sich keine Ruhepause gönnen, denn noch war einer seiner Verfolger beharrlich auf seiner Spur. Sein Cousin und Waffenbruder Gawain, nach ihm der angesehenste Ritter der Tafelrunde und Neffe König Artus’, preschte hinter ihm schnellen Fußes heran. Erst im Wald würde Lanzelot eine Möglichkeit haben auch ihn, seinen engsten Freund und nun schlimmsten Feind, abzuschütteln.
Gnade konnte er von seinem Vetter nicht erwarten, denn sein Vergehen war unverzeihlich. Er, der engste Vertraute König Artus’, der erste Ritter am Hofe Camelots und der stille Führer der Tafelrunde, hatte seinen König und Lehnsherrn verraten, weil er Guineverre, die Gemahlin des Königs liebte, wie es ihm nicht zustand.
Mordred, der Sohn des Königs, hatte Lanzelots verräterische Liebe aufgedeckt und den gefallenen Ritter bei einem Besuch seiner Angebeteten überrascht. Alle Ritter der Tafelrunde, alle Knappen des Hofes, Landsknechte und Bewaffnete im Dienste des Königs, die er vor Sonnenuntergang des vorigen Tages noch als unfehlbarer Kriegsherr befehligte, waren von da an auf der Jagd nach ihrem ehemaligen Herrn. Wie ein Rudel Wölfe hatten sie ihn gejagt, doch im Schutze der Nacht hatte der edle Recke alle Verfolger täuschen und narren können. Alle bis auf einen, denn seinen alten Kampfgefährten und Waffenbruder Gawain, mit dem er so manche Gefahr bestanden hatte, konnte er nicht abschütteln. Dazu kannten sich die beiden alten Kämpen zu gut und es schmerzte Lanzelot in der Seele, dass es wohl zu einem Kampf mit seinem alten Freunde kommen würde.
Lanzelot erreichte mit zwei Pfeilschussweiten Abstand vor seinem unerbittlichen Verfolger den rettenden Hain, dessen Boden dicht mit Schnee bedeckt war und in dessen Tiefen schon so mancher Wanderer für Stunden und Tage verloren ging. Als er tiefer in den verzauberten Wald eingedrungen war, konnte er das Schwert Gawains niedersausen hören, wie es seinem Herren einen Weg durch das Unterholz schlug. Das Blätterdach über ihren Häuptern war schon bald so dicht gewuchert, dass die beiden das Leuchten des Sternenzelts und das sanfte Licht des Mondes nicht mehr erreichte und sie fast wie blind durch das Dickicht stolperten.

lanzelot01

Im Morgengrauen erreichte der müde Lanzelot dann auf einer Anhöhe eine verfallene Turmruine, die noch aus der Zeit der Römer stammte. Vom Berghang aus konnte er seinen Verfolger gut erkennen, der keinerlei Spuren von Ermüdung zeigte und Lanzelot nicht entkommen lassen wollte. Lanzelots Kräfte neigten sich dem Ende zu, sein linkes Bein konnte ihn jetzt jeden Moment im Stich lassen. Mit den letzten Anstrengungen, die sein geschundener Körper ihm noch erlaubte, humpelte der einst noble Ritter die Stufen der Ruine auf das Dach hinauf. Oben angekommen konnte er auf den Hang unter blicken und Gawain erspähen, der mittlerweile den Fuß des Turmes erreicht hatte.
Äußerlich hätte der Unterschied zwischen den beiden Recken niemals größer sein können, als in dieser grauen Morgenstunde an diesem vergessenen Ort.
Gawain stand am Fuße des Turmes, sein Schwert fest entschlossen in der Hand, sein Wappenrock war auf wundersame Weise unversehrt und strahlte wie an dem Tage, als der Stoff genäht wurde und auch Gawains Mantel war in keiner Weise beschmutzt. Das Gesicht des Recken war kühn und von Entschlossenheit geprägt, die Stirn in strenge Falten gelegt, doch heroisch kann man nur das gesamte Erscheinungsbild nennen, das Gawain vor seinem alten Weggefährten an den Tag legte.
Ganz anders der einst so edle Ritter vom See. Lanzelots Bein war gebrochen und seine Beinkleider in dunkles Rot getaucht, seine feinen Gewänder, die er für die Frau Guineverre angelegt hatte, waren ganz
zerschlissen. Sein Gesicht war zerkratzt und mit Schweiß und Schmutz bedeckt, doch trotzdem stand der alte Held trotzig auf der Ruine, die wie ein Stein gewordenes Abbild von ihm wirkte. Er zog sein Schwert, sein einziges Hab und Gut neben dem Willen in seinem Herzen niemals aufzugeben und für seine Liebe zu Guineverre zu sterben, sollte es keinen anderen Ausweg geben.
So standen sich die beiden Freunde gegenüber, äußerlich der eine ein edler Ritter, der andere ein gebrochener Mann, aber innerlich beides Giganten, der eine seinem König verpflichtet, der andere der Liebe zu
der Frau, die sein Leben bedeutete, und beide von Kummer befallen, weil sie gegen einen alten Weggefährten kämpfen mussten.
„Lass mich ziehen, Gawain! Ich habe dir nichts getan und es würde mir das Herz zerreißen, wenn ich dir Gewalt antun müsste“, rief Lanzelot von hoch droben herab.
„Wie immer bist du furchtlos, mein Bruder. Aber du hast unseren König verraten und ich kann dich nicht ziehen lassen, ohne selbst zum schlimmsten Verräter zu werden“, antwortete der strahlende Gawain von
unten, während er um den Turm herum ging, wie ein Wolf um seine Beute. „Zwing mich nicht, dich zu töten. Schließlich bist du sehr schwer verletzt“, fügte er hinzu, während er nach einem sicheren Aufstieg auf die Ruine suchte.

lanzelot02

Er hoffte, dass Lanzelot schon so gebrochen war und aufgeben würde, wusste aber tief in seinem Innersten, dass Lanzelot zu stolz war um aufzugeben und auch, dass ein verwundeter Lanzelot immer noch ein
gefährlicherer Gegner war, als so mancher Ritter am Hofe in Camelot.
„Gawain, mein treuer Freund. Wenn du mich nicht ziehen lassen willst, dann musst du mich töten. Komm herauf und lass es uns zu Ende bringen.“ Tatsächlich erklomm der Ritter die Stufen des Turms. Er hatte keine Angst davor, dass Lanzelot ihn mit einem Stein erschlagen würde, denn das wäre seiner unwürdig. Aber Gawain fürchtete sich vor dem, was er gezwungen sein würde zu tun: seinen alten Freund zur Strecke zu bringen.
Als er oben auf dem Dach angekommen war, sah er dass Lanzelot zum Kampf bereit auf ihn wartete. So standen sie sich Auge in Auge gegenüber und bewegten sich lange Zeit nicht.
„Komm mit mir, Lanzelot“, brach Gawain das Schweigen.
Lanzelot schüttelte nur den Kopf und tat einen tiefen Atemzug, sodass beide wussten, dass der Kampf beginnen würde. Mit einer Geschwindigkeit, die niemand an der Tafelrunde erreichte, hieb Lanzelot wie wild auf Gawain ein und konnte so verhindern, dass Gawain überhaupt dazu kam, Schläge auszuführen. Gawain hielt dem Sturm jedoch stand und setzte auf die Ermüdung Lanzelots, die bald einsetzen musste, wenn er sich weiterhin so verausgabte. Der Boden unter den beiden Kämpfern war brüchig und bot keinen guten Halt, sodass Gawain einen weiteren Grund hatte, sich still zu verhalten und dem Hagel von Schlägen abwehrend zu trotzen.

lanzelot03

Nach einiger Zeit wurden auch die Schläge Lanzelots weniger gezielt und heftig, sodass Gawain langsam zum Angriff überging. Erst konterte er jeden vierten Schlag Lanzelots mit einem Gegenhieb, dann jeden
dritten und dann jeden zweiten, als sich ihm die Gelegenheit bot Lanzelot niederzustrecken. Der Ritter vom See war bei einer Parade aus dem Tritt geraten und ein Stein kippte unter seinem Fuß weg, sodass Lanzelot über dem Abgrund ruderte und dem Sturz nahe war. Da machte Gawain einen mutigen Schritt nach vorne und wollte Lanzelot mit einem Hieb von oben den Todesstoß versetzen, doch mit Gedankenschnelle schoss Lanzelots linke Hand hervor und umfasste den Schwertarm des edlen Ritters und riss ihn mit zu Boden. Die beiden Waffenbrüder schlugen auf dem Boden auf, rollten übereinander her und auf den Abgrund zu, da versetzte Lanzelot seinem alten Freunde einen Tritt und stürzte ihn in die Tiefe.

lanzelot04

Mit einem dumpfen Schlag schlug der edle Körper des Ritters Gawain auf dem schneebedeckten, steinigen Boden unter dem Turm auf und ward zerschmettert. Das Leben wich sogleich aus ihm und er fühlte keinen Schmerz, außer gegen seinen besten Freund gekämpft haben zu müssen.
Lanzelot fühlte denselben Schmerz, als er auf den zerschmetterten Leib seines Freundes herabblickte und das Schwert, das neben ihm lag und er vergoss stille Tränen, ob der Trauer über seine Taten.

lanzelot05